Glück oder Unglück, wer vermag´s zu sagen?
Es gab einmal in einem Dorf einen alten Mann, der sehr arm war, aber trotzdem von Königen beneidet wurde – denn er besaß ein schönes weißes Pferd. Ein Pferd von solcher Qualität war noch nie gesehen worden – solche Schönheit, solcher Stolz, solche Stärke! Könige bewarben sich um das Pferd und boten fabelhafte Preise, aber der alte Mann kannte nur eine Antwort: „Dieses Pferd ist für mich kein Pferd, sondern ein Freund, und wie kann man einen Freund verkaufen?“ Der Mann war arm und hatte allen Grund, der Versuchung zu erliegen, aber er verkaufte das Pferd nie.
Eines Morgens entdeckte er plötzlich, dass das Pferd nicht mehr im Stall war. Das ganze Dorf versammelte sich, und alle sagten: „Das hast du davon, alter Narr! Wir haben es vorher gewußt, eines Tages mußte das Pferd ja gestohlen werden! Und wie kannst du bei deiner Armut einen solchen Schatz richtig behüten? Du hättest wirklich besser daran getan, das Pferd zu verkaufen. Du hättest viel Geld dafür verlangen können. Jetzt ist das Pferd weg. Jetzt siehst du, was für ein Fluch, was für ein Unglück es für dich war.“
Der alte Mann sagte: „Ihr müßt nicht übertreiben! Sagen wir einfach: das Pferd ist nicht im Stall. Das ist alles. Ob es nun ein Unglück ist oder Glück, wer vermag das zu sagen?“
Die Leute hielten den alten Mann für verrückt. Sie hatten es schon immer gewußt, dass er nicht ganz richtig im Kopf war; sonst hätte er ja sein Pferd verkauft und in Saus und Braus gelebt…
..Stattdessen fristete er sein Leben als Holzfäller. Obwohl er sehr alt war, fällte er immer noch Bäume, brachte das Holz aus dem Wald und verkaufte es. Er lebte von der Hand in den Mund, hatte nur das nötigste und nie wirklich genug. Aber jetzt war endgültig klar, dass er verrückt war.
Nach vierzehn Tagen kam das Pferd plötzlich eines Nachts zurück. Es war nicht gestohlen worden: es war nur in die Wildnis gelaufen. Und es kam nicht nur zurück, sondern brachte auch noch zwölf andere Wildpferde mit. Und wieder kamen die Leute zusammen und sagten: „Alter, du hast Recht gehabt; wir haben uns geirrt. Es war kein Unglück, sondern ein Segen. Was hast Du doch für ein Glück!“
Und der alte Mann sagte: „Glück – Unglück? Sagen wir doch einfach, dass das Pferd zurück ist und dass es zwölf andere Pferde mitgebracht hat. Ob das nun ein Glück ist oder Unglück, wer vermag das zu sagen?“
Wieder schüttelten die Leute den Kopf. Der Alte war wirklich verrückt. Zwölf herrliche Pferde waren mit dem einen Pferd zurückgekommen! Wenn sie ein bißchen eingeritten wurden, konnten sie bald alle verkauft werden und massenhaft Geld einbringen. Warum wollte er nur nicht sehen, was für ein Glückspilz er war?
Der alte Mann hatte einen jungen Sohn – es war sein einziger. Dieser Sohn begann nun, die Wildpferde zu zähmen; doch eine Woche später stürzte er von einem der Pferde und brach sich beide Beine. Wieder kamen die Leute zusammen: „Oje, wären diese Pferde doch nur nie zu Dir gekommen. Es war kein Segen, es war doch ein Unglück. Dein einziger Sohn hat beide Beine gebrochen und wird zum Krüppel werden! Wer soll jetzt die Stütze deiner alten Tage sein? Jetzt bist du ärmer denn je.“
Der alte Mann sagte: „Unglück – Glück? Sagen wir doch einfach, dass mein Sohn seine Beine gebrochen hat. Ob das nun wieder ein Unglück ist oder Glück, wer vermag das zu sagen?“
Die Leute sagten nichts mehr. Sie wußten ja, daß der Alte verrückt war. Kopfschüttelnd gingen sie nach Hause. Ein paar Wochen später geschah es, dass ein Krieg mit dem Nachbarland ausbrach, und die Werber des Königs kamen, um alle jungen Männer zur Armee einzuziehenen. Nur der Sohn des alten Mannes blieb zurück, weil er durch die gebrochenen Beine als Soldat unbrauchbar war.
Die Leute kamen zusammen, weinend und klagend, denn aus jedem Hause wurden die jungen Männer mit Gewalt abgeholt. Und es bestand keine Aussicht, dass sie je wiederkämen, denn das Land, mit dem Krieg geführt wurde, war ein sehr großes Land. Die Schlacht war von vornherein verloren. Also würden sie nicht zurückkommen. Das ganze Dorf weinte und klagte. Sie kamen zu dem alten Mann und sagten: „Wie recht du hattest, Alter! Weiß Gott, wie recht du hattest – es war ein Segen: dein Sohn mag zwar ein Krüppel sein, aber wenigstens bleibt er bei dir. Unsere Söhne werden wir nie wieder sehen. Er wenigstens lebt und ist bei dir, und nach und nach wird er schon wieder das Laufen lernen.“
Der alte Mann wehrte ab: „Glück – Unglück? Sagen wir doch einfach, dass eure Söhne in die Armee geholt worden sind, und mein Sohn nicht. Aber ob das nun nun wieder ein Unglück ist oder Glück, wer vermag das zu sagen?“
Wieder gingen die Leute nach Hause. Doch nicht alle schüttelten diesmal den Kopf.